17.März 2016

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


„Vom Eise befreit . . .“ – Goethe und die Kleine Eiszeit

Joachim Schmitz

„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“. So fängt der berühmte Osterspaziergang in Goethes Faust an, mit dem zumindest zu meiner Zeit jeder Schüler zu tun bekam. Vom Eise befreit? Zu Ostern? In Zeiten der Klimaerwärmung ist das sowieso unverständlich, aber auch früher sind Fließgewässer nur selten zugefroren - der Rhein war zuletzt in den 1960er-Jahren vereist. Aber das war immer in der Wintermitte und nicht erst kurz vor Ostern. Als Goethe den Faust schrieb, war das Klima tatsächlich wesentlich kühler als heute.

Klimaforscher nennen das die Kleine Eiszeit. Vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert war das Klima in Europa deutlich kühler als davor und danach. Nicht nur für Goethe hat der Winter erst zu Ostern aufgehört. Auch die berühmten Winterbilder von holländischen Malern zeigen vereiste Seen und Grachten. Auf einem Bild von Pieter Bruegel dem Älteren (nach anderen Schreibweisen Brueghel, Breughel oder noch anders genannt) von 1566 wird die biblische Geschichte von der Schätzung der Menschen nach dem Gebot des Kaisers Augustus in ihrem Heimatort in ein typisch holländisches Dorf im Winter mit Eis und Schnee versetzt. Etwas anderes konnte sich der Maler offensichtlich gar nicht vorstellen.

Es gibt aber nicht nur mittelbare Belege für diese Klimaphase. Aus Pollenablagerungen im Torf von Mooren kann man aus der Zusammensetzung der Baumarten auf das Klima schließen. Noch direkter ist die Methode der Dendrochronologie. Gemäß dem Wetterverlauf eines Jahres bilden Bäume unterschiedliche Jahresringe aus. Finden Archäologen Holzstücke, die Jahresringe über eine längere Zeitspanne zeigen, ist das Muster der Jahresringe so charakteristisch wie bei einem menschlichen Fingerabdruck. So kann man Jahrhunderte alte Holzfunde bis aufs Jahr genau datieren. Aber man kann an den Jahresringen eben auch ablesen, wie das Klima eines Jahres war. Bei warmem, nicht zu trockenen Jahren bilden sich breite Jahresringe. Ist das Jahr kalt und/oder trocken, bleiben die Jahresringe schmal.

Auch aus dem Karlsgarten, der auf das capitulare de villis, der kaiserlichen Verordnung Karls des Großen beruht, kann man schlussfolgern, dass es in Mitteleuropa von der ausgehenden Antike bis ins frühe Mittelalter wesentlich wärmer gewesen sein muss. Dort wird den Kaiserlichen Reichsgütern zum Beispiel die Kultur der Meerzwiebel (Urginea maritima) vorgeschrieben, die heute nur noch im Mittelmeerraum gedeiht. Noch extremer ist das Beispiel des Pferde-Eppichs, auch Gespenstdolde genannt (Smyrnium olusatrum). Die Art wurde bei uns lange als Gemüse kultiviert. Als typisch westmediterrane Art, die wärmeliebend und frostempfindlich ist, ging es mit Beginn der Kleinen Eiszeit rapide bergab. Die letzte Erwähnung findet sich Ende des 16. Jahrhunderts bei TABERNAEMONTANUS. Als Gemüse sprang dann der heute noch kultivierte Sellerie in die Bresche. In der Antike wurde Sellerie ausschließlich als Heilpflanze angesehen. In der Kleinen Eiszeit hat der Sellerie aber dann dem kälteempfindlichen Pferde-Eppich den Rang abgelaufen.

Das nachhaltig verschlechterte Klima führte natürlich auch zu Einbußen in der Landwirtschaft. Nahrungsmangel beförderte soziale Spannungen, die oft auf dem Rücken von Minderheiten ausgetragen wurden und Aberglauben anheizten. Es wohl kein reiner Zufall, dass der Höhepunkt der Hexenverfolgung mit dem Beginn der Kleinen Eiszeit zusammenfällt. In die Kleine Eiszeit fällt auch der Dreißigjährige Krieg. Es ist natürlich Spekulation; aber man kann sich schon fragen, ob der unter anderen Klimabedingungen auch so verheerend abgelaufen wäre.

Über die Ursache der Kleinen Eiszeit gibt es eine Reihe Hypothesen, die alle ziemlich spekulativ sind. Wirklich verstanden ist das Phänomen bis heute nicht.

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zuletzt bearbeitet am 24.III.2016