27. Mai 2021

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Profiteure des Klimawandels – ein Halbschmarotzer auf Erfolgskurs

 Angelika Greif

Seitdem die Apfelbäume sich in ein weißes Blütenmeer verwandelt haben, gelingt es unserer heutigen Hauptakteurin immer besser, ihre wahre Existenz hinter Blüten und austreibenden Blättern zu verbergen. Versteckt und immergrün breitet sich die Mistel langsam, aber kontinuierlich in den Obstbaumbeständen der Streuobstwiesen aus.

Die Mistel ist ein Halbschmarotzer. Das sieht man ihr erst einmal nicht an, denn auch sie besitzt Chlorophyll: Der grüne Blattfarbstoff ermöglicht Wirtsbaum und Parasit, aus Kohlenstoffdioxid und Sonnenlicht Zucker aufzubauen. Doch autotrophe Pflanzen verfügen zudem über ein Wurzelwerk, um Wasser, die dritte Produktionszutat aufzunehmen - Misteln besitzen lediglich so genannte Haustorien.

Mit diesen Saugorganen dringt die junge Mistel in das Leitgewebe der Wirtspflanze vor und zapft dort Wasser und die darin gelösten Nährsalze ab. Damit der „Raub“ aus dem Transpirationsstrom der Pflanze gelingt, muss die eigene Verdunstungsrate der Mistel größer sein als die ihres Wirts, weshalb sie auch als „ungebetener Säufer“ bezeichnet wird.

Die Weiße Mistel (Viscum album) ist zweihäusig, d.h. es gibt männliche und weibliche Pflanzen. Bei jedem Jahreszuwachs gabelt sie sich einmal und nimmt so nach und nach eine kugelige Form an. Auch wenn sie langsam wächst, steigt die Last für den Wirt von Jahr zu Jahr, zum einen durch die größer werdende Pflanze, zum anderen durch ihre explosionsartige Verbreitung bei der Vermehrung.

Vier Jahre baucht die Mistel, bis sie selbst fruchten kann. Die weißlichen Scheinbeeren sind im Winter eine begehrte Vogelnahrung. Nach der Darmpassage keimt der junge Embryo auf geeigneter Unterlage dann im Frühling aus, bildet Haustorien und bedient sich zum ersten Mal an Wasser und Salzen seines Wirts. Das Alter der infizierten Bäume ist dabei nicht von Bedeutung, wie Streuobstwiesenbesitzer wohl wissen.

Doch die Mistel verlässt sich keineswegs nur auf zufällig dahergeflogene Verbreitungsgehilfen. Ihre Samen sind von einem zähflüssigen, klebrigen Schleim umgeben, der einfach „eine Etage tiefer tropft“, auf dem dortigen Ast kleben bleibt und auskeimt. Und so kann eine einzige Mistel mit ihren Nachkommen im Laufe der Jahre zu einem immer stärkeren Befall ein und derselben Wirtspflanze führen ... wenn ihr kein Einhalt geboten wird.

Die Mistel-Infektion ist für den Obstbaum der Beginn einer unfreiwilligen Beziehung fürs Leben. Man kann sie nur entfernen, wenn die Infektionsstelle außen liegt und es noch möglich ist, den Ast einzukürzen. Ist der Baum allerdings bereits vielfältig betroffen, bleibt nur eins – regelmäßig schneiden und herausbrechen, was nach Mistel aussieht. Die Mistel kommt zwar wieder, aber sie braucht dann vier Jahre, bis sie wieder fruchten kann: Der Baum hat somit Zeit gewonnen.

Misteln können 50 Jahre alt werden – vorausgesetzt, ihr Wirt kann dies auch. Aber sägen sich die Misteln nicht selbst den Ast ab, auf dem sie sitzen? Es macht biologisch natürlich keinen Sinn, den Wirt so zu schädigen, dass er abstirbt, aber …. der Klimawandel scheint den Misteln zu immer stärkerer Ausbreitung zu verhelfen: Flächendeckend sind sie in Streuobstwiesen auf dem Vormarsch. Somit müssen die Obstbäume bei zunehmendem Wasserstress dieses knapper werdende Gut auch noch mit immer mehr Misteln teilen. Und so zahlt am Ende die Rechnung dann doch wohl der Wirt ...

 

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zuletzt bearbeitet am 7.VI.2021